DIESE STADT STAND IN EINEM ANDEREN LAND – Geschichten aus HaNeu

WDR, Juni 2015
54 Min
Regie: Nikolai von Koslowski

Erstsendung: WDR 3 Kulturfeature 10. und 11.10.2015
Max-Lingner-Stiftung 16.3. 2016, 19h
DLRK 25.6.2016, 0.05h , MDR 6.10.2021, 22.00 h

 

Sendung

Aufgewachsen in der Platte Block neun drei zwei,
Halle Neustadt heißt das Pflaster, mittendrin statt nur dabei.
Jeder muss sich hier beweisen, jeder gegen jeden;
schütze deinen Schädel, wenn wir auf dich eintreten
singt eine Neustädter hiphop-Band 2011.

Halle-Neustadt war die einzige deutsche Großstadt in Großplattenbauweise, eine Stadt, jenseits von Privateigentum an Grund und Boden, großzügig geplant und errichtet. Hier galt: gleich viel Licht, Luft und Sonne, gleiche Wohn- und Lebensbedingungen für alle. Hier wohnten Ingenieurin und Putzfrau, Professor und Baggerfahrer im selben Block. Die soziale Infrastruktur von Kindergärten, Krippen, Schulen bis Polikliniken war von vornherein integriert. Die Chemiearbeiterstadt vor den Toren von Buna und Leuna war eine funktionale fordistische und sozialistische Modellstadt aus fortschrittsgläubiger Zeit. Sie war die städtebauliche Ikone der DDR-Nachkriegsmoderne und eine international beachtete gebaute Stadtutopie.

In Halle Neustadt ist heute nichts mehr, wie es war. Die Stadt hat die Hälfte ihrer Bevölkerung und ihren Status als eigene Stadt verloren. Ein Siebtel der Bausubstanz ist abgerissen. Das ökonomische Rückgrat der Stadt ist gebrochen. Die Chemieindustrie kommt mit einem Zehntel der früher Beschäftigten aus.

Der große Exodus seit Mitte der 90er Jahre war eine Abstimmung mit dem Umzugswagen gegen diese städtische Lebensform, aber ebenso gegen „die neue Zeit“, in der Wohnungen wieder Ware geworden und von globalen Fonds meistbietend wie Handelsware an der Börse verhökert werden. Genossenschaften bieten da einen gewissen Schutz .

Grundsaniert, äußerlich schöner und grüner geworden, zerfällt Halle Neustadt jetzt in Armenviertel und wohlhabendere Quartiere, „differenziert sich“, wie es heißt. Die gebaute Utopie ist gescheitert. Neustädter, die geblieben sind, halten in den Schlußsätzen des Features so trotzig wie ohnmächtig dagegen: „Es war und ist en schönes Wohnen hier in Halle-Neustadt, ist ein grünes Paradies geworden. Es is natürlich ne andere Zeit geworden, das darf man nicht vergessen.“

Hörproben

Rap
Rap

Komposition
Komposition

Old Richard
Old Richard

Gleichheit
Gleichheit

Cerberus
Cerberus

Veröffentlicht unter 30 Reportagen, Osten
3 Kommentar auf “DIESE STADT STAND IN EINEM ANDEREN LAND – Geschichten aus HaNeu
  1. Der Anfang ist irritierend und doch folgerichtig: Raketenstart, Gagarin, Aufbruch, das Licht aus dem Osten. Gleich hinter dem Eisernen Vorhang spielt sich Utopisches am Boden ab: Futurum eins, nächste Zukunft, gespeist auch aus Denkmodellen des frühen 20. Jahrhunderts. Bauen als weltanschauliches Bekenntnis. In Halle Neustadt ist die DDR – vorübergehend – Avantgarde. Nur leider gefesselt an ideologische Hundeleinen. Die ästhetischen „Gesetze des Rechtecks“ entsprechen zugleich und vor allem ökonomischen Vorgaben der kostensparenden Serie.
    Solche Ambivalenz durchzieht unaufgeregt, zuweilen auch anrührend („Was wäre alles möglich gewesen, wenn…“) diesen akustischen Essay. Kein sentimentales Bedauern, kein plattes Entlarven einer grundsätzlich verlogenen Ideologie am attraktiven Beispiel Halle Neustadt. Anselm Weidner nimmt die Blaupause, wie sie auf dem Papier steht, und stellt sie auf die Beine – vom Bausand der Sechziger und Siebziger Jahre bis zur sterbenden, zum Ausschlachten freigegebenen Schlafstadt der Gegenwart.
    Der Enthusiasmus der Anfangszeit schwingt ungeschützt in den Erinnerungen der Erstbewohner. Diese immer noch „bewussten Sozialisten“, die sich mit einem trotzigen Stolz an die „Hausgemeinschaften“ im Plattenbau und die endlich geschaffene „Gleichheit“ des Wohnens bis zu den Matroschkas auf dem genormten Mobiliar oder an den „Muttizug“ nach Leuna erinnern, sind mit ihren geraden, bekenntnishaften Sätzen einfach zum Knutschen. Ich ertappe mich dabei, selbst von den historischen Propaganda-O-Tönen gepackt zu werden.
    Bis der Autor die Seifenblasen platzen lässt und durch andere, ebenso grade Sätze konterkariert: „Das ist Beton“. Die „Gleichheit der Menschen“ führe – der baulichen Grundidee folgend – zur Standardisierung der Lebensweise. Der Gedanken. Dies alles in gute Texte (endlich wieder einmal RADIO-Texte!) gegossen und klug mit aussagekräftigen Wirklichkeits-Fragmenten montiert. Auch die kantige, das Fragmentarische des Vorgangs betonende Form (Regie Nikolai von Koslowski) macht die „Geschichten aus Haneu“ zu einem intellektuellen und emotionalen Erlebnis.

  2. Michael Bräuer sagt:

    Sehr geehrter Herr Weidner,
    ich danke Ihnen für die Übermittlung Ihres Features zu Halle-Neustadt, welches ich mir gestern Abend in aller Länge und Ausführlichkeit angehört habe. Ich glaube, es gibt ein differenziertes und vielschichtiges „Gemälde“, was an mehreren Stellen zum tiefer Eruieren einlädt. …
    Dass ich speziell mit dem Phänomen Paulick und dem Büro in Halle-West, später –Neustadt zitiert werde, verbindet sich für mich sehr emotional mit der Tatsache, dass ich am 22. August in Weimar die Abschiedsrede für Prof. Achim Bach, seinerzeit der Stellvertreter Paulick´s, der „Macher“ des Büros und unser Betreuer im Praktikum 1967 halten durfte. Halle-Neustadt war dort wieder sehr präsent und wird es bleiben. …
    Nochmals dankend grüßt Sie freundlich
    Michael Bräuer

  3. Dr. Bernd Hunger sagt:

    Lieber Herr Weidner, vielen Dank für Ihr großartiges Feature! Wann bekommt man heutzutage noch so ein ausbalanciertes, konkretes, vielfältige Facetten berührendes Porträt einer Wohnstadt zu lesen? Ich glaube, dass Sie mit dieser Arbeit HaNeu gerecht werden. Das Feature ist ein wichtiges historisches Dokument, das den derzeitigen ungewissen Balanceakt, die Zukunft der Stadt betreffend, emotional berührend beschreibt: großes Kompliment!
    Dr. Bernd Hunger, Referent für Stadtentwicklung, Wohnungsbau im GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen

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  1. […] März 2016 in der Berliner Max-Lingner-Stiftung um 19 Uhr erneut aufgeführt. Hörproben gibt es hier. Das einstündige Feature nimmt den Stadtteil in 21 Geschichten mit 27 Protagonisten in den Blick. […]

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